Möglichkeiten und Grenzen
Selbstrettung im Brandfall
Im Brandfall zählt jede Sekunde – und ein sicherer Fluchtweg kann Leben retten. Doch statische Rettungswegkennzeichnungen stoßen schnell an ihre Grenzen, wenn Feuer oder Rauch den geplanten Weg unpassierbar machen. Dynamische Fluchtweglenkungssysteme (DFWL) passen die Wegführung im Gefahrenfall automatisch an und verkürzen so die Evakuierungszeit erheblich. Der Fachbeitrag zeigt, wie DFWL funktionieren, welche baurechtlichen und normativen Grundlagen zu beachten sind und in welchen Szenarien sie nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Wirtschaftlichkeit erhöhen.
Der Schutz von Personen hat bei der Evakuierung von Gebäuden im Brandfall oberste Priorität. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Fluchtund Rettungswege, über die sich die Gebäudenutzer selbst in Sicherheit bringen oder von Einsatzkräften gerettet werden können. Dafür bleibt nicht viel Zeit, denn für die Selbstrettung aus einem brennenden Gebäude ohne fremde Hilfe stehen in der Regel nur zehn Minuten zur Verfügung, aus Bereichen in der Nähe des Brandes oft nur zwei bis drei Minuten. An Fluchtwege werden daher bauaufsichtlich hohe Anforderungen gestellt, wie z. B. maximale Rettungsweglängen, das Freihalten von Brandlasten und das Vorhandensein eines zweiten Rettungsweges.
Fluchtwegkennzeichnung
Die Beleuchtung und eindeutige Kennzeichnung von Fluchtwegen hat für die Flüchtenden eine wichtige Funktion. Gemäß den Vorschriften für die Notund Sicherheitsbeleuchtung werden hierfür in der Regel (hoch angebrachte) Sicherheitsleuchten sowie (hoch angebrachte) beleuchtete oder hinterleuchtete Fluchtwegkennzeichen installiert. Sie sollen den Flüchtenden eine sichere Orientierung ermöglichen, um den Gefahrenbereich möglichst schnell und selbstständig verlassen zu können. Dabei wird von jedem Punkt des Gebäudes aus genau ein bereits bei der Planung festgelegter Fluchtweg mit unveränderlichen Richtungszeichen gekennzeichnet. Die Vorschriften gehen davon aus, dass der kürzeste Fluchtweg maßgeblich ist und im Gefahrenfall begehbar bleibt. Dies ist jedoch bei einem Feuer nicht immer der Fall. Sind Teile des unveränderlich gekennzeichneten Fluchtweges durch Feuer oder Rauch unpassierbar, werden Flüchtende unter Umständen geradewegs in Gefahrenbereiche geführt. Dann geht wertvolle Zeit verloren und Flüchtende sind unter Umständen in diesen Bereichen gefangen, da Fluchttüren nur in Fluchtrichtung öffnen und in Gegenrichtung häufig verschlossen sind (Bild 1). Zudem besteht die Gefahr von Stauungen mit nachfolgender Panik unter den Flüchtenden.

Dynamische Fluchtweglenkung
Fluchtweglenkungssysteme mit richtungsvariabler Fluchtwegkennzeichnung (Bild 2) verkürzen die benötigte Zeit zur Selbstrettung erheblich. Dynamische Fluchtweglenkungssysteme (DFWL) erhalten durch Kopplung mit einer Brandmeldeanlage (BMA) im Brandfall Informationen über den Brandort. Sobald ein Melder eines Rauchoder Brandabschnittes anspricht, wird der betroffene Bereich durch die DFWL optisch gesperrt und von diesem wegbzw. herumgelenkt. Die Evakuierung aus dem Gefahrenbereich selbst erfolgt auf dem kürzesten Weg (Bild 3). Je nach Schutzziel können optional niedrig angebrachte Rettungszeichen und bodennahe Leitmarkierungen mit Lauflichtfunktion ergänzt werden, die auch bei Verrauchung eine Orientierung ermöglichen.


Moderne Sicherheitsbeleuchtungssysteme erlauben die Stromversorgung und die Ansteuerung statischer und dynamischer Rettungszeichenbzw. Sicherheitsleuchten auf einem gemeinsamen Endstromkreis. Der Aufbau einer DFWL beschränkt sich dann auf den Austausch der statischen Rettungswegkennzeichen gegen dynamische und die Programmierung der Brandszenarien im zentralen Steuerteil der Sicherheitsbeleuchtung sowie die Anbindung an die BMA. Eine Änderung der bestehenden Verkabelung ist nicht notwendig. Damit werden in vielen Fällen die Schutzziele auf besonders wirtschaftliche Weise erreicht.
DFWL dienen in erster Linie dem Personenschutz und verringern mögliche Personenschäden. Indirekt verbessern sie aber auch den Sachschutz: Beim Eintreffen der Feuerwehr sind insbesondere Sonderbauten oft noch nicht vollständig geräumt. Das kann zum Beispiel in Gebäuden mit zahlreichen ortsunkundigen Besuchern oder Einrichtungen mit mobilitätseingeschränkten Personen wie Senioren-/Pflegeheimen und Krankenhäusern der Fall sein. Ein Teil der Einsatzkräfte ist dann vorrangig mit der Personenrettung beschäftigt und steht für Löschmaßnahmen nicht zur Verfügung. Eine DFWL verkürzt die für eine vollständige Räumung benötigte Zeit, sodass die Feuerwehren den Brand in voller Personalstärke schneller und effektiver bekämpfen und damit auch Sachschäden verringern können.
Kompensation und Wirtschaftlichkeit
Variable Fluchtweglenkungssysteme eignen sich besonders als schutzzielorientierte und wirtschaftliche Kompensationsmaßnahme für bauliche und andere anlagentechnische Maßnahmen (siehe Abweichungen S. 7). Bei Umbauten und Sanierungen im Bestand und in denkmalgeschützten Gebäuden sind nachträgliche bauliche Lösungen nach aktuellen Standards oft nicht realisierbar (siehe Projektbeispiel S. 7). Ebenfalls häufig sind Abweichungen nach Nutzungsänderungen, zum Beispiel bei der Umwandlung von Wohnungen in Gewerbeeinheiten. Die Bauordnungen verweisen ausdrücklich auf die Einhaltung der (aktuellen) bauordnungsrechtlichen Schutzziele auch bei Nutzungsänderungen.
Auch bei Neubauten und moderneren Bestandsgebäuden lassen sich mit DFWL Schutzziele wirtschaftlicher erreichen als mit den Standardvorgaben der Bauordnungen. Da diese Überlegungen nicht Gegenstand bauordnungsrechtlicher Anforderungen sind, müssen Betreiber und Fachplaner von sich aus aktiv werden und im Fluchtwegkonzept geeignete Maßnahmen beschreiben und Abweichungen von Bauordnungen oder anderen Regelwerken begründen. Eine frühzeitige Abstimmung mit den Genehmigungsbehörden und anderen Beteiligten, wie z. B. dem Sachversicherer, wird empfohlen.
Die DIN 14036[1] beschreibt im Anhang A mögliche Szenarien, in denen DFWL zur Kompensation baurechtlicher Anforderungen beitragen können. In einem ausführlich erläuterten und bebilderten Projektbeispiel wird ein denkmalgeschütztes Verwaltungsgebäude beschrieben, bei dem durch eine DFWL u. a. der Bau einer zusätzlichen Außentreppe vermieden werden konnte. Weitere Projektbeispiele sind ausführlich im „Leitfaden Dynamische Fluchtweglenkung D.E.R.“ von Inotec Sicherheitstechnik beschrieben, der unter www.inot.ec/leitfaden angefordert werden kann.
Barrierefreie Evakuierung
Bei der Evakuierung von Gebäuden muss auch auf Menschen mit motorischen oder sensorischen Einschränkungen Rücksicht genommen werden. Die Gleichbehandlung dieser Personengruppen bei der Alarmierung und Evakuierung ist im Behindertengleichstellungsgesetz gesetzlich verankert. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Zwei-Sinne Prinzip, bei dem zur Alarmierung und Fluchtweglenkung im Gefahrenfall mindestens zwei Sinne angesprochen werden, z. B. „Sehen“ und „Hören“ durch optische und akustische Signalgeber. Grundsätzlich ist für die Selbstrettung von Menschen mit Einschränkungen ein individuelles Maßnahmenbündel aus baulichen, anlagentechnischen und organisatorischen (personellen) Maßnahmen erforderlich. DFWL bieten vielfältige Möglichkeiten einer wirksamen und wirtschaftlich vertretbaren Unterstützung. So kann z.B. ein für Rollstuhlfahrer nutzbarer Fluchtweg separat ausgewiesen werden (Bild 4).

AUSBLICK:
Adaptive Fluchtweglenkung
DFWL ermöglichen bei Aktivierung einmalig die Anpassung der Fluchtwegkennzeichnung an eine Gefahr und die Anzeige eines sicheren Fluchtweges. Sie werden immer dann eingesetzt, wenn eine Ausbreitung der Gefahr z. B. über einen Rauchoder Brandabschnitt hinaus nicht zu erwarten ist. Das Konzept der Adaptiven Fluchtweglenkung (AFWL) baut auf der DFWL auf und geht einen Schritt weiter. AFWL werden wie DFWL im Gefahrenfall aktiv und können je nach Gefahrenort unterschiedliche Fluchtrichtungen anzeigen. Im Gegensatz zu DFWL stellen sie sich jedoch auf die weitere Gefahrenentwicklung ein und passen die Fluchtrichtung während der Räumung flexibel an. Dazu müssen die Fluchtwege hinsichtlich ihrer Begehbarkeit überwacht werden, beispielsweise mit Brandmeldern, „Fluchtwegmeldern“, Videokameras oder Gassensoren. Je nach eingesetzter Sensorik können z. B. die Ausbreitung eines Brandes, Stauungen in Fluchtwegen oder das Austreten gefährlicher Gase erkannt und kontinuierlich sichere Fluchtwege ausgewiesen werden. AFWL sind bisher nur als Konzept entwickelt (²) und noch nicht am Markt verfügbar.
Normative Grundlagen
Mit der Norm DIN 14036 „Dynamische und adaptive Fluchtweglenkung“ steht den am Bau Beteiligten erstmals eine Anwendungsnorm für mehr Planungsund Genehmigungssicherheit bei richtungsabhängigen Fluchtwegleitsystemen zur Verfügung. Im normativen Teil wird die schutzzielorientierte Realisierung einer DFWL beschrieben und im informativen Anhang B werden ergänzende Hinweise zum Aufbau einer AFWL gegeben. Die Norm berücksichtigt in den Abschnitten 5 bis 10 alle Phasen der Realisierung einer DFWL von der Planung bis zur Instandhaltung. Zentraler Bestandteil ist das Fluchtweglenkungskonzept, das alle Anforderungen zusammenfasst und in dem Abweichungen von der Bauordnung dokumentiert und begründet werden. Die DIN 14036 geht an vielen Stellen explizit auf die barrierefreie Selbstrettung und das Zwei-Sinne-Prinzip ein. Im Anhang C werden Hinweise zur Realisierung einer akustischen Fluchtweglenkung gegeben.
Die Vornorm DIN VDE V 0108-200[3] beschreibt die Mindestanforderungen an elektrisch betriebene optische Sicherheitsleitsysteme. Bei der Überarbeitung der lichttechnischen DIN EN 1838[4] wurde der Anwendungsbereich um Adaptive (richtungsvariable) Sicherheitsbeleuchtungsanlagen erweitert und die richtungsvariable Fluchtwegkennzeichnung als Teil der Sicherheitsbeleuchtung festgelegt. Sie enthält Hinweise zur Anwendung der neuen Vornorm DIN CEN/TS 17951[5], die Anforderungen an Adaptive Sicherheitsbeleuchtungsanlagen festlegt.
ABWEICHUNGEN
Kompensation und Wirtschaftlichkeit
Die Landesbauordnungen (LBO) und die Technischen Baubestimmungen (TB) der Länder sind keine starren Regelwerke, die buchstabengetreu einzuhalten sind. Sie beschreiben lediglich Mindestanforderungen an Standardbauten. Nach § 67 und § 85a der Musterbauordnung lassen LBO und TB Abweichungen zu, wenn die geforderten Schutzziele in gleichem Maße erreicht werden. Auf dieser Grundlage können bauaufsichtliche Anforderungen kompensiert werden, die nicht erfüllbar (z. B. in denkmalgeschützten Gebäuden) oder unwirtschaftlich sind. Abweichungen müssen von der Baubehörde genehmigt werden. Der dafür erforderliche Aufwand wird durch den Wegfall anderer baulicher oder anlagentechnischer Maßnahmen häufig mehr als kompensiert.
PROJEKTBEISPIEL
Brandschutz in der Gedenkstätte Bautzen
In der Gedenkstätte Bautzen sind zum Erhalt der beklemmenden Atmosphäre so gut wie keine Eingriffe in die historische Bausubstanz zugelassen. Im Zuge einer Sanierung sah das Brandschutzkonzept allerdings eine Sprachalarmierungsanlage (SAA) mit zahlreichen sichtbaren Lautsprechern im historischen Zellenhaupttrakt vor, die den Charakter des Denkmals zerstört hätten. Mit dem Einbau einer DFWL statt einer SAA wird das Schutzziel „Selbstrettung der überwiegend ortsunkundigen Besucher“ genauso erreicht. Für die Realisierung mussten lediglich die vorhandenen statischen Rettungswegkennzeichen gegen dynamische ausgetauscht werden. Durch die DFWL konnte auch der Bau einer zweiten Außentreppe vermieden werden (Bild 5).

FAZIT
Dynamische Fluchtweglenkung bietet einen klaren Sicherheitsgewinn gegenüber statischen Systemen, da sie Gefahrenlagen flexibel berücksichtigt. Sie kann in vielen Fällen als wirtschaftliche Kompensation für bauliche Maßnahmen dienen, insbesondere bei Bestandsund Sonderbauten. Die neue DIN 14036 schafft erstmals verbindliche Planungsund Umsetzungsvorgaben. Barrierefreie Lösungen und das Zwei-Sinne-Prinzip machen DFWL zudem für alle Nutzergruppen einsetzbar. Adaptive Systeme nach DIN 14036 sind noch Zukunftsmusik, könnten aber noch flexibler auf sich ändernde Gefahrensituationen reagieren.
LITERATUR | QUELLENANGABEN
[1] DIN 14036:2023-12 Dynamische und Adaptive Fluchtweglenkung – Planung und Umsetzung von richtungsvariablen Konzepten.
[2] ZVEI e. V.: ZVEI-Merkblatt 33013: 2016-05 „Adaptive Fluchtweglenkung – Weiterentwicklung der technischen Gebäudeevakuierung: Von der Dynamischen zur Adaptiven Fluchtweglenkung“, 2016, https://www.zvei.org/presse-medien/publikationen/adaptive-fluchtweglenkung [Zugriff am: 15.08.2025].
[3] DIN VDE V 0108-200 VDE V 0108-200:2018-12 Sicherheitsbeleuchtungsanlagen Teil 200: Elektrisch betriebene optische Sicherheitsleitsysteme.
[4] DIN EN 1838:2025-03 Angewandte Lichttechnik – Notbeleuchtung für bauliche Anlagen. [5] DIN CEN/TS 17951:2024-11 Angewandte Lichttechnik – Adaptive Sicherheitsbeleuchtungsanlagen; deutsche Fassung CEN/TS 17951:2024.
