Mehr Sicherheit für Feuerwehren und Hilfsorganisationen
Gewalt gegen Angehörige der Feuerwehren und Hilfsorganisationen rückt seit einigen Jahren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit. Angriffe wie z. B. auf Rettungsund Einsatzkräfte der Berliner Feuerwehr in der Silvesternacht 2022/2023 verdeutlichen, dass Aggression gegenüber diesen kein Randphänomen ist. Der Berliner Landesbranddirektor Prof. Dr. Karsten Homrighausen sagt dazu: „Solche Angriffe auf eine Helferin oder einen Helfer kann und darf eine Stadtgesellschaft nicht tolerieren“.[2, S. 33]
In diesem Artikel wird dargestellt, wie das Forschungsprojekt SAGRE (Schutz vor Aggression und Gewalt für Rettungsund Einsatzkräfte der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr) die Sicherheit der Helfer erhöhen möchte, um nicht nur deren Gesundheit und Zufriedenheit am Arbeitsplatz zu fördern, sondern auch den Schutz der Bevölkerung langfristig zu gewährleisten.
Entwicklungen bei der Berliner Feuerwehr
Die Berliner Feuerwehr selbst wertet seit ein paar Jahren gezielt die Angriffe auf ihre Mitarbeiter aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich lediglich um gemeldete Fälle handelt; das Dunkelfeld könnte weitaus größer sein. Grafik 1 zeigt die Anzahl der gemeldeten Übergriffe und Delikte pro Jahr. Bei Übergriffen handelt es sich um die Gesamtzahl der gewalttätigen Situationen und bei Delikten um einzelne Gewalthandlungen, denn bei einem Übergriff können mehrere Delikte gleichzeitig auftreten.


Es zeigt sich, dass die Zahl der Übergriffe seit 2020 jährlich etwas ansteigt, im Jahr 2024 allerdings wieder leicht gesunken ist. Die Zahl der Delikte schwankt stärker. Interessanterweise näherten sich die Zahlen 2023 an, wobei es zu verhältnismäßig vielen Übergriffen mit relativ wenig Delikten kam. Ob es hier einen Zusammenhang mit der Silvesternacht 2022/23 gibt, bleibt zu klären.
Grafik 2 zeigt, wie sich die Ausprägung verschiedener gemeldeter Delikte seit 2018 bei der Berliner Feuerwehr entwickelt hat. Dabei ist zu beachten, dass sich einige Veränderungen auch durch zwischenzeitlich angepasste Meldeprozesse ergeben haben können. Bei Beleidigung und Bedrohung z. B. ist ein Anstieg um das Jahr 2021 herum zu beobachten. Tätliche, also körperliche Angriffe nahmen eher ab. Möglicherweise ergab sich hier ein Zusammenhang mit der Corona-Pandemie (ab 2020). Zu sonstigen Delikten zählt auch die Sachbeschädigung, die allerdings nicht jedes Jahr berücksichtigt wurde. Im Jahr 2024 wurden 121 Übergriffe mit 231 Delikten erfasst, wovon ca. 40,4 Prozent auf tätliche Angriffe, ca. 26 Prozent auf Bedrohungen und ca. 23,8 Prozent auf Beleidigungen entfielen. Bei lediglich etwa 2,6 Prozent der Meldungen handelte es sich um Sachbeschädigung.[3, S. 126]
Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen – intern (z. B. Anpassung der Meldewege) wie extern (z. B. verbesserte Strafverfolgung) – kann derzeit nicht zuverlässig eingeschätzt werden, da diese erst vor vergleichsweise kurzer Zeit eingeführt wurden. Aufgrund des begrenzten zeitlichen Anwendungsrahmens liegen bislang weder belastbare Daten noch gesicherte Evaluationsstudien vor, die Rückschlüsse auf ihre tatsächliche Wirkung oder Nachhaltigkeit erlauben würden. Eine fundierte Bewertung bleibt daher zukünftigen Untersuchungen vorbehalten.
Forschungsstand in Deutschland
Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) existiert in der Bundesrepublik Deutschland schon seit 1953, erfasst jedoch erst seit 2011 Rettungsund Einsatzkräfte der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr als gesonderte Opfergruppe. In diesem Zeitraum zeigt sich etwa eine Verdreifachung der Fallzahlen. Das Forschungsprojekt „Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehren und Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen“ der Ruhr-Universität Bochum führte von Mai bis Juni 2017 eine Befragung zu dieser Thematik durch. Von den ca. 812 Teilnehmern berichteten etwa 64 Prozent davon, in den vorausgegangenen zwölf Monaten körperliche oder verbale Gewalt erlebt zu haben.[7, S. 1]
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Befragungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) und des Deutschen Feuerwehrverbandes (DFV) aus den Jahren 2023 und 2024, welche mit dem Institut für Arbeit und Gesundheit (IAG) der DGUV entwickelt wurden. An der Erhebung von 2023 nahmen mehr als 6.500 Personen teil, von denen 49,5 Prozent angaben, in den letzten zwei Jahren während ihrer Tätigkeit Gewalt erlebt zu haben.[6, S. 6]
Seit 2019 gibt es bei der Berliner Feuerwehr einen Bereich für Gewaltprävention, welcher u. a. den internen Meldeprozess bearbeitet. Weitere Maßnahmen der Berliner bzw. Bundespolitik als Reaktion auf das Phänomen der Gewalt gegen Einsatzkräfte sind z. B. folgende:
• Angepasstes Silvester-Einsatzkonzept 2023/24: Zusammen mit der Berliner Polizei und der Senatsverwaltung für Inneres und Sport wurde von der Berliner Feuerwehr für Silvester ein spezielles Konzept für Einsätze während des Jahreswechsels entwickelt. Dazu gehörte, dass die Polizei die Feuerwehr in den Gebieten Berlins begleitete, die als besonders risikobehaftet eingestuft wurden. Kräfte der freiwilligen Feuerwehr wurden in diesen Gegenden nicht eingesetzt.[2, S. 33]
• Verbesserte Strafverfolgung: Seit Februar 2023 ist die Abteilung 236 der Berliner Staatsanwaltschaft für die Bearbeitung von Angriffen gegen Einsatzkräfte zuständig. Ziel ist es, diese gesammelt zu erfassen und damit auch zügiger verfolgen zu können.[2, S. 32]
• „Zusammen für mehr-respekt.de“: Dieses Projekt ist vom Bundesministerium des Innern ins Leben gerufen worden und startete im August 2023. Es will deutlich machen, wie wichtig die Arbeit von Feuerwehren, Hilfsorganisationen und der Polizei für die Sicherheit der Bevölkerung ist und für mehr Respekt gegenüber ihrer Arbeit werben. Dazu erzählen Einsatzkräfte von ihrem Berufsalltag, so auch Kollegen der Berliner Feuerwehr.[5]


Im Jahr danach lässt sich ein leichter Anstieg feststellen: 52,6 Prozent der gut 7.500 Befragten berichteten von verbaler oder körperlicher Gewalt in den vorhergehenden zwei Jahren.[8, S. 12] Diese Studien verdeutlichen den Handlungsbedarf, führen gleichzeitig aber zu neuen Fragen: Liegt der Anstieg der Zahlen in der PKS an einer gestiegenen Anzahl von Fällen? Hängt er mit einem erhöhten Einsatzaufkommen zusammen? In Berlin gab es beispielsweise von 2014 bis 2024 eine Steigerung der Einsatzzahlen um rund 33,3 Prozent.[4] Oder ist die Sensibilisierung und damit die Bereitschaft der Einsatzkräfte gewachsen, Vorfälle zu melden? Zudem wird deutlich, dass sich viele der Forschungsprojekte einerseits auf bestimmte Regionen[7] und andererseits auf entweder Feuerwehren[ 6; 8] oder Rettungsdienste[9] konzentrieren. Das Forschungsprojekt SAGRE möchte einen umfassenden Überblick sowohl über die Situation von Hilfsorganisationen als auch von Feuerwehren im Bereich der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr gewinnen.
Vorgehensweise und Methoden
Im Projekt kommt ein Methodenmix zum Einsatz, der qualitative und quantiquantitative Verfahren kombiniert, um das Phänomen von Aggression und Gewalt im Einsatzdienst aus möglichst vielen Perspektiven abzubilden (Grafik 3). Ein Kernstück bildet eine bundesweite Online-Befragung, die sich an Rettungsund Einsatzkräfte von Berufsund Freiwilligen Feuerwehren sowie Hilfsorganisationen richtet. Um den unterschiedlichen Organisationsformen gerecht zu werden und möglichst hochwertige Analysen durchzuführen, wurde ein spezielles Stichprobendesign angewendet: Sowohl bei Berufsals auch bei freiwilligen Feuerwehren wird die sogenannte Klumpenstichprobe genutzt, d. h., bei den Berufsfeuerwehren wurde pro Bundesland nach dem Zufallsprinzip eine Stadt ausgewählt, äquivalent für die Verteilung verschiedener Stadtgrößen über das Bundesgebiet. Für die freiwilligen Feuerwehren dienen Landund Stadtkreise als Klumpen, die ebenfalls zufällig ausgewählt wurden. Über diesen Weg werden eine möglichst breite regionale Abdeckung sowie ein Mindestmaß an Repräsentativität angestrebt.
Die Befragung von Angehörigen der Hilfsorganisationen hingegen erfolgt auf Basis einer selbstselektiven Zu Potenzielle Teilnehmer werden deutschlandweit über ihre Dachorganisationen angesprochen. Dabei handelt es sich um das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter-Unfall-Hilfe, den Malteser-Hilfsdienst, den Arbeiter-Samariter Bund, die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft sowie das Technische Hilfswerk. Die Klumpenstichprobe bietet den Vorteil, mittels Gewichtungen Aussagen über Gruppen treffen zu können. Mit der selbstselektiven Zufallsstichprobe hingegen lässt sich eine größere Teilnehmerzahl erreichen.
Um hinter die erhobenen Zahlen zu blicken, fließen qualitative Verfahren in das Projekt ein. Sozialforscher begleiten Einsatzfahrzeuge der Berliner Feuerwehr im Rahmen teilnehmender Beobachtungen, führen leitfadengestützte Gespräche mit betroffenen Einsatzkräften durch und analysieren systematisch Dokumente wie Gerichtsakten. Auf diese Weise sollen insbesondere Auslöser, Hintergründe und Eskalationsverläufe von Gewalt erfasst und beschrieben werden, um später ein Modell zu entwickeln, welches einen Bezugsrahmen für das Phänomen „Gewalt und Aggression gegen nichtpolizeiliche Einsatzkräfte“ schafft. Ein interdisziplinär besetzter wissenschaftlicher Think Tank begleitet, diskutiert und evaluiert den Forschungsprozess. Ein erster Workshop fand bereits statt mit dem Ziel, gemeinsam mit Führungskräften aus betroffenen Organisationen und Behörden Erkenntnisse zu bündeln, Erfahrungen zu diskutieren und Handlungsbedarfe zu identifizieren.
In weiteren Formaten werden Personen aus Bereichen wie Justiz, Soziale Arbeit, Psychologie und Betriebliches Gesundheitsmanagement zu ähnlichen Themen befragt. Durch die disziplinübergreifende Betrachtung soll ein 360°-Blick (Grafik 4) mit besonderem Augenmerk auf bislang wenig berücksichtigte Perspektiven erreicht werden. In anschließenden Praxisworkshops mit Anwendern werden die gewonnenen Erkenntnisse diskutiert und Ideen für zukünftige Handlungserfordernisse gesammelt.
Ziel des Projekts ist es, Aggression und Gewalt nicht isoliert zu betrachten, sondern als dynamisches, soziales Geschehen zu verstehen und über die reinen Zahlen hinauszublicken. Aus dieser umfassenden Perspektive rücken die handelnden Personen, Rahmenbedingungen und Eskalationsverläufe in den Fokus. Auf Basis dieser Analyse leitet das Forschungsteam Handlungsbedarfe ab, aus denen differenzierte, praxisnahe Empfehlungen entstehen sollen. Diese richten sich dann gezielt an die nichtpolizeilichen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben.
Hier geht es zur Website des Projekts SAGRE: https://projekt-sagre.de/
FAZIT
Auch wenn das Thema Gewalt gegen Rettungsund Einsatzkräfte immer mehr Aufmerksamkeit erhält und beispielsweise bei der Berliner Feuerwehr schon erste Schutzmaßnahmen eingeleitet worden sind, bleiben Hintergründe und Ursachen dieses Phänomens bislang weitestgehend unklar. Um die Sicherheit der Helfer und darüber hinaus der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, möchte SAGRE mit seinem vielfältigen Methodenansatz aus verschiedenen Forschungsperspektiven alle relevanten Untersuchungseinheiten in den Blick nehmen. Dadurch sollen Dynamiken erklärbar gemacht und solide Datengrundlagen geschaffen werden, auf deren Basis betroffenen Behörden und Organisationen einheitliche Handlungsempfehlungen und -leitfäden zur Verfügung gestellt werden können. Die Ergebnisse und weitere Informationen werden laufend auf der Projektwebsite www.projekt-sagre.de öffentlich zugänglich gemacht. Projektpartner und Förderung Das Forschungsprojekt wird von der Berliner Feuerwehr als Konsortialleiterin gemeinsam mit den Verbundpartnern Bayerisches Rotes Kreuz und Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin durchgeführt. Ergänzend unterstützen 17 assoziierte Organisationen das Vorhaben, indem sie ihre breit gefächerte Expertise z. B. aus Psychologie, Kriminologie, Sozialwissenschaften, Politik, Verwaltung, Sozialer Arbeit und Einsatzpraxis einbringen. Das Forschungsprojekt SAGRE läuft von August 2024 bis Juli 2026 und wird im Rahmen der Förderlinie „Anwender – Innovativ: Forschung für die zivile Sicherheit II“ des Bundesprogramms „Forschung für die zivile Sicherheit 2018 bis 2023“ durch die Bundesregierung finanziert.
LITERATUR | QUELLENANGABEN
[ 1 ] Berliner Feuerwehr (2019-2025). Jahresberichte 2018-2024.
[2] Berliner Feuerwehr (2024). Jahresbericht 2023.
[3] Berliner Feuerwehr (2025). Jahresbericht 2024.
[4] Berliner Feuerwehr (2025). Berliner Feuerwehr in Zahlen 2024. https://www.berliner-feuerwehr.de/ueber-uns/ berliner-feuerwehr-in-zahlen-2024/
[5] Bundesministerium des Innern (2023, 28. August). Bundesinnenministerium startet Kampagne „Zusammen für mehr-respekt. de“ [Pressemitteilung]. https://www.bmi. bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/ DE/2023/08/start-pur-kampagne.html
[6] Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung & Deutscher Feuerwehrverband (2023, 28 Dezember). Umfrage 2023. Beleidigungen, Beschimpfungen, Bedrohungen – Bundesweite Befragung zu Gewalt gegen Einsatzkräfte. https://www.dguv.de/medien/gewalt-angehen/ dfv_dguv_umfrage_gewalt_gegen_einsatzkraefte_ ergebnisse_in_ppt_231228.pdf
[7] Feltes, T. & Weigert, M. (2018). Forschungsprojekt „Gewalt gegen Einsatzkräfte der Feuerwehren und Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen“ Abschlussbericht. Ruhr-Universität Bochum. https://www. unfallkasse-nrw.de/fileadmin/server/download/ PDF_2018/Abschlussbericht_Gewalt_gegen_ Einsatzkraefte.pdf
[8] Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. (2024). DFV Befragung 2024. „Gewalt und Belästigung durch Mitbürgerinnen und Mitbürger der Mitglieder von Feuerwehren und Leitstellen”. https://www.feuerwehrverband.de/ app/uploads/2024/12/Einsatzkraefte-Gewaltbefragung DFV_2024_final.pdf
[9] Sefrin, P., Händlmeyer, A., Stadler, T. & Kast, W. (2021). Erfahrungen zur Gewalt gegen Rettungskräfte – aus der Sicht des DRK. Der Notarzt, 37(1), 1–19. https://doi.org/10.1055/a-1310-6763
